Die Behandlung von Funktionen einer reellen Variablen

mit Methoden der dynamischen Geometrie

Heinz Schumann

Die Theorie und die Praxis des computer-unterstützten Mathematikunterrichts war bisher stets ein Reflex auf den jeweilig als das Nonplusultra gepriesenen Software-Entwicklungsstand.

 

Abstract: Methods of Dynamic Geometry, which are characterized above all by direct mani-pulation and generation of geometric objects, applicated to the following instructional topics: "Elementary Functions", "Functional Relations in Geometric Figures" and "Geometric Extreme Value Problems" open up new possibilities of teaching and learning functional thinking. These possibilities aid dynamic imagination about functions and help to overcome the weaknesses of traditional media and deficits of traditional design of instruction. They reinforce the connection between elementary geometry and school algebra.

 

1 Einleitung

Neben die herkömmlichen Repräsentationsformen von Geometrie tritt heute die computer-repräsentierte Darstellung (Diagramm 1); - die Film-/Video-Darstellung kann zur computer-repräsentierten Darstellung gezählt werden. - Auf die sich ergebenden Schnittstellenprobleme zwischen den verschiedenen Repräsentationsformen soll hier nicht eingegangen werden.

Unter den aktuellen Formen computerrepräsentierter Geometrie nimmt die Dynamische Geometrie bzw. die Zug-Modus-Geometrie (vgl. u.a. Schumann 1991) im Rahmen des computerunterstützten Mathematikunterrichts und der mathematikdidaktischen Diskussion eine führende Rolle ein.

Die Verwendung Dynamischer Geometrie-Systeme (DGS), die über einen entsprechenden Umfang an Optionen verfügen und die den aktuellen software-ergonomischen Standards genügen,

Diagramm 1

führt zu neuen Methoden, (ebene) Elementargeometrie zu lehren und zu lernen bei der

DGS unterstützen folgende allgemeine Methoden der Heuristik/Erkenntnisfindung:

DGS begünstigen, wie auch andere Computerwerkzeuge, die inhaltliche Anreicherung ("Enrichment") und die methodische Verstärkung ("Reinforcement"), - als "kognitives Werkzeug" - die Ökonomie intellektueller Arbeit, insbesondere die Reorganisation.

DGS unterstützen die Selbststeuerung des Lerners sowie konstruktivistische Erkenntnisprozesse, die, grob gesehen, in den Phasen: "Epistemischer Konflikt - Selbstreflektion - Selbstkorrektur" ablaufen. (Schumann 2000c)

Die Anwendung von Methoden der dynamischen Geometrie stellt eine neue Verbindung zwischen synthetischer Geometrie und den Funktionen einer reellen Variablen her bei der

- Dynamischen Behandlung elementarer Funktionen

- Dynamischen Untersuchung funktionaler Beziehungen an geometrischen Figuren

- Dynamischen Entdeckung geometrischer Extremwertaufgaben.

2 Die Behandlung von Funktionen einer reellen Variablen

mit Methoden der dynamischen Geometrie

 

Zur dynamischen Behandlung von Funktionen und ihrer Schaubilder eignet sich besonders CABRI Géomètre II (Laborde et al. 1996), das sicherlich aus software-ergonomischer und geometrie-inhaltlicher Sicht als das am weitesten entwickelte interaktive Werkzeug für die (ebene) Geometrie bezeichnet werde kann. Im folgenden beziehen wir uns auf dieses System; andere interaktive Geo-metriewerkzeuge sind für unsere Zwecke weniger oder nicht geeignet.

Wenn wir davon ausgehen, dass die Schüler und Schülerinnen Novizen in der Nutzung eines geo-metrischen Computerwerkzeugs sind, so stellen wir die Bildschirm-Konfigurationen zusammen mit den Aufgabentexten als "interaktive Arbeitsblätter" (Schumann 1998b), die auch zu Demon-strationszwecken verwendet werden können, zur Verfügung. Der Einsatz solcher Arbeitsblätter bietet einen ersten Zugang zur dynamischen Behandlung von Funktionen und funktionalen Bezie-hungen an geometrischen Figuren sowie von geometrischen Extremwertaufgaben.

 

    1. Dynamische Behandlung elementarer Funktionen

Behandlungsmöglichkeiten elementarer Funktionen einer Variablen sind die

Der Übergang zwischen den Standardrepräsentationen von Funktionen kann dynamisch gestaltet werden (Diagramm 2).

Diagramm 2

Fragestellungen:

Wie wirkt sich die direkt manipulative Veränderung des Schaubildes auf die Funktions-gleichung/Wertepaare aus?

Wie wirkt sich die direkt manipulative Veränderung der Funktionsgleichung auf das Schau-bild/Wertepaare aus?

Wie wirkt sich die direkt manipulative Veränderung von Wertepaaren auf das Schaubild/die Funktionsgleichung aus?

(Vgl. Schumann 1998a)

Im Einzelnen:

Dynamische Generierung des Schaubildes

Aufstellung des Funktionsterms in Abhängigkeit von der variierbaren Abszisse; Konstruktion von (x; f(x)); Erzeugen des Schaubildes als Punktespur durch Verziehen von (x; 0); anschließend interpolatives Erzeugen des "durchgezogenen" Schaubildes als referenzierbare Ortskurve.

Dynamische Untersuchung mit Schaubildcursor

Untersuchung des Schaubildes/der Funktion mittels direkter Manipulation des Funktionscursors (einem auf dem Schaubild laufenden, verziehbaren Punkt) zur näherungsweisen und wechselseitigen Bestimmung besonderer x- und y-Werte (wie z. B. Nullstellen, Extremstellen, …), wahlweise mit Ausgabe in eine Wertetabelle.

Anmerkung: Im Rahmen der Differentialrechnung geht das natürlich auch für die Untersuchung der Steigung bei mitlaufender Tangente.

Dynamische Variation der aktualen Funktionsparameter

Untersuchung des Schaubildes nach Form und Lage in Abhängigkeit von den Funktions-parametern anhand einer direkt manipulativen Versuchsanordnung (direkt manipulative oder automatisch-animative Variation der Parameterwerte mittels Schieber und Erzeugung von Ortskurven besonderer Punkte und von Kurvenscharen).

Fragestellung: Wie ändern sich die Form und/oder die Lage des Schaubildes bei interaktiver Variation eines aktualen Parameters und Konstanz der anderen?

Beispiel in Abbildung 1.

Schumanns CabriJava-Arbeitsblätter


Figure KubParab.fig

Abb. 1

Dynamische Manipulation des Schaubildes

Untersuchung der Funktionsgleichung nach Veränderung ihrer Parameter in Abhängigkeit von der Form und Lage des Schaubildes anhand einer interaktiven Versuchsanordnung (direkt manipulative Variation der Position von Referenzpunkten des Schaubildes, die seine Form und/ oder Lage verändern).

Fragestellung: Wie ändern sich die Parameterwerte in der Funktionsgleichung bei direkt manipulativer Variation der Position der Lage- oder der Form-Referenzpunkte?

Beispiel in Abbildung 2.

Schumanns CabriJava-Arbeitsblätter


Figure Rwhyp.fig

 

Abb. 2

Dynamische Komposition von Funktionen

Generierung des Schaubildes einer Funktion durch dynamisches Zusammensetzen der Schaubilder seiner einfachen Funktionsbausteine.

 

Dynamische Bildung der Umkehrfunktion

Generierung des Schaubildes der Umkehrfunktion durch Spiegelung des Funktionsschaubildes an der ersten Winkelhalbierenden und "Übereinstimmungstest" mit dem, über die Gleichung der Umkehrfunktion erzeugten Schaubild.

 

Dynamische Modellierung mit Funktionsschaubildern

Untersuchung von Bildern realer Objekte auf das Enthaltensein eines Funktionsschaubildes und Bestimmung der betreffenden Funktionsgleichung durch experimentelle Anpassung des eingefügten Schaubildes an das im Bild implizit vorhandene.

Beispiel in Abbildung 3.

Schumanns CabriJava-Demos: Brückenbogen-Modellierung


Figure AX^2.fig

 

Abb. 3

Oft führt ein erster Modellierungsversuch nicht zum Ziel, wie in Abbildung 4.1 in der ein "Gate" nicht die Form einer quadratischen Parabel hat, während der Kosinus-Hyperbolicus eher die Form des Gates beschreibt (Abb. 4.2).

Schumanns CabriJava Demos: Gate-Modellierung


Figure AX^2.fig

 

Abb. 4.1

Schumanns CabriJava Demos: Gate-Modellierung


Figure Coshyper


 

Abb. 4.2

    2. Dynamische Untersuchung funktionaler Beziehungen an geometrischen Figuren

Die Untersuchung geometrischer Figuren auf funktionale Beziehungen hin motiviert die Entwicklung von Funktionsgleichungen aus Messfunktionen.

Untersuchung von Funktionen (einer Variablen) an geometrischen Figuren gemäß folgender Methode:

  1. Konstruktion einer geometrischen Figur bzw. Teilfigur unter der Bedingung, dass eine gewählte Größe (als Messwert oder Term aus Messwerten) von einer zu variierenden Größe abhängt
  2. Darstellung des Funktionszusammenhangs zwischen unabhängiger Größe und von ihr abhängigen Größe als referenzierbares Schaublid einer Messfunktion
  3. Interpretation des Schaubildes der Messfunktion (auch Beobachtung der Schaubild-Charakteristik bei Variation der Figurendimensionierung und Vergleich mit anderen Schaubildern)
  4. Herleitung der Gleichung für die Messfunktion, die im empirischen Schaubild dargestellt ist
  5. Kontrolle der hergeleiteten Funktionsgleichung durch Erzeugung ihres Schaubildes (Kongruenz von Schaubild der Messfunktion und analytischem Schaubild)
  6. Diskussion der hergeleiteten Funktionsgleichung (besondere Stellen und Werte, wie z.B. Extremstellen und -werte).

(Vgl. Schumann 1995/2000a)

    3. Dynamisches Entdecken von Extremwertaufgaben

Die Untersuchung geometrischer Figuren auf extremale Eigenschaften induziert (allgemeine) Extremwertaufgaben, die mit/ohne Hilfe von Computeralgebra gelöst werden können.

Aus dieser Möglichkeit, funktionale Eigenschaften einer Figur zu untersuchen, ergibt sich folgende Methode zur Entdeckung von extremalen Eigenschaften und zur näherungsweisen Bestimmung von Extremwerten:

  1. Konstruktion einer geometrischen Figur, die auch Nebenbedingungen erfüllt.
  2. Variation einer unabhängigen Größe der Figur bwz. Teilfigur unter Beobachtung eines funktionalen Zusammenhangs: unabhängige Größe - abhängige Größen
  3. (Datensammlung in Werte-Tabelle; grafische Darstellung im Schaubild)

  4. Erkennen einer extremalen Eigenschaft
  5. (näherungsweises Bestimmen von Extremstelle und Extremwert)

  6. Variation der Figurenparameter und Prüfung, ob extremale Eigenschaft invariant

(5) Formulierung einer allgemeinen geometrischen Extremwertaufgabe.

Jetzt erst schließt sich die exakte Lösung der betreffenden allgemeinen Extremwertaufgabe mittels Differentialrechnung (z.B. unter Einsatz von Computeralgebra) oder mittels elementarer Methoden an. - Diese Methode ist präformal, da sie im allgemeinen nicht das Aufstellen einer Zielfunktion notwendig macht, aber trotzdem gestattet, die Zielfunktion als eine Messfunktion auf extremale Eigenschaften hin zu untersuchen.

(Vgl. Schumann 1998c/2000b)

3 Computerunterstützte Behandlung ebener (algebraischer) Kurven

Wir schließen mit einem generalisierenden Ausblick auf die computerunterstützte Behandlung ebener Kurven.

Die Untersuchung von Ortskurven besonderer Punkte, die sich aufgrund von Konstruktions-vorschriften ergeben, wird durch ihre computergrafische Darstellung in Form referenzierbarer Objekte unterstützt (Diagramm 3). Umgekehrt kann bei Verfügbarkeit dieser Darstellung die ihr zugrunde liegende Konstruktionsvorschrift reproduziert werden.

Diagramm 3

Soll nun für die computergrafische Darstellung einer Kurve ihre algebraische Darstellung in der Form F(x; y)=0 herausgefunden werden, so generiert CABRI II approximativ eine solche Gleichung, deren Richtigkeit u.a. mittels MATHEMATICA bzw. DERIVE überprüft werden kann.

Für die Bestimmung einer Parameterdarstellung aus der computergrafischen Darstellung existiert wohl noch kein approximativer Algorithmus, sodass der Umweg über die Gleichung F(x; y)=0 bzw. die Konstruktionvoschrift genommen werden muss. Jede Kurve, deren Parameterdarstellung gegeben ist, kann natürlich mit CABRI II bzw. einem geeigneten Funktionsplotter computer-grafisch dargestellt werden; allerdings verfügt man dann noch nicht über eine entsprechende elementargeometrische Konstruktionsvorschrift.

 

Literatur

Laborde, J.-M.; Bellmain, F. (1996): Cabri Géomètre II. Version 1.0 - Dallas/USA u. Freising: Texas Instruments. (Deutsche Oberfläche und Bearbeitung des Handbuchs von H. Schumann)

Schumann, H. (1991): Schulgeometrisches Konstruieren mit dem Computer. - Stuttgart: Metzler u. Teubner

Schumann, H. (1995): Funktionale Eigenschaften einer geometrischen Figur darstellen und untersuchen mit Cabri II im TI-92. In: TI-Nachrichten, Heft 2, S. 6/7

Schumann, H.(1998a): Dynamische Behandlung elementarer Funktionen. - In: Mathematik in der Schule (36), Heft 3, S. 172-188

Schumann, H.(1998b): Interaktive Arbeitsblätter für das Geometrielernen. – In: Mathematik in der Schule (36), Heft 10, S. 562-569

Schumann, H. (1998c): Geometrische Extremwertaufgaben in dynamischer Behandlung. – In: ZDM Zentralblatt für Didaktik der Mathematik 30(6), S. 215-223

Schumann, H.(2000a): Computerisierte Behandlung funktionaler Beziehungen an geometrischen Figuren. – In: Mathematik in der Schule (38), Heft 2, S. 109-119

Schumann, H.(2000b): Computerunterstützte Behandlung geometrischer Extremwertaufgaben. – Hildesheim: Franzbecker

Schumann, H.(2000c): FOR THE DESIGN OF A COMPUTER INTEGRATING GEOMETRY CURRICULUM (Paper presented in the Working Group 11: "The Use of Technology in Mathematics Education" on the 9th International Congress on Mathematical Education, ICME 9, in TOKYO – Makuhari, July 31–August 6, 2000). In: BEITRÄGE zum COMPUTEREINSATZ in der SCHULE (ISSN 0932-2736), Heft 2, September, S. 9-15

Adresse des Autors:

Prof. Dr. habil. Heinz Schumann

Fak. III, Mathematik/Informatik

Institut für Bildungsinformatik

PH Weingarten, Kirchplatz 2, D-88250 Weingarten

Email: SCHUMANN@PH-WEINGARTEN.DE

Homepage: WWW.MATHE-SCHUMANN.DE